Redebeitrag: Zwischen Verschwörungsmythen und Bürgerlichkeit

Zwischen Verschwörungsmythen und Bürgerlichkeit

Redebeitrag auf der Kundgebung ‘Querdenken entgegentreten’ am 10. Oktober 2020

Obwohl wir gehofft haben, in Zeiten einer Pandemie keine Großveranstaltungenorganisieren zu müssen, um andere und uns zu schützen, lässt uns „Querdenken“ keineandere Wahl, als auf die Straße zu gehen.
Wir sind heute hier, um ein klares Zeichen gegen die antisemitische, rassistische undqueerfeindliche Initiative „Querdenken“ zu setzen und Solidarität mit allen Betroffenen zu zeigen. Wir stehen zusammen und passen aufeinander auf!

WER STECKT EIGENTLICH HINTER „QUERDENKEN“?

Parallel zu den staatlich erlassenen Coronaschutzmaßnahmen Anfang April dieses Jahres,organisierten sich deutschlandweit Gegner*innen der geltenden Regelungen u. a. auf der Plattform „nicht ohne uns“. Angefangen mit Grundgesetz-Verteilaktionen vor demBundestag in Berlin sollte gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie demonstriert werden. Bereits zu dieser Zeit waren personelle Überschneidungen zu den im Jahre 2015 organisierten Montagsmärschen ersichtlich, die später als PEGIDA großes Aufsehen erregten.

In Anlehnung an die ersten Veranstaltungen in Berlin, folgte Mitte April die erste Kundgebung hier auf dem Karolinenplatz in Darmstadt mit ca. 20 Teilnehmenden. Initiiertwurde die Veranstaltung zu Beginn noch von Celia von Hoerschelmann, über die ein äußerst unkritischer Bericht im Darmstädter Echo veröffentlicht wurde. Ab diesem Zeitpunkt antrafen sich wöchentlich Menschen in Darmstadt und demonstrierten gegen die Corona-Maßnahmen. Ab Mai gab es eine Umstrukturierung innerhalb der Darmstädter Orga und es wurde sich der Initiative „Querdenken“ angeschlossen. “Querdenken“ bezeichnet sich explizit nicht als Verein oder Partei, sondern eben als „Initiative“. Als Initiator gilt Michael Ballweg, der in Stuttgart die „Querdenken 711“ gründete. Der Zusatz “615” des Darmstädter Ablegerskommt von der Telefon-Vorwahl Darmstadts (0615). Mittlerweile zählt „Querdenken615“ zu einer der größten Querdenkeninitiativen in Deutschland und bietet ein Sammelbecken für Personen und Gruppen aller Couleur. Das Spektrum der Protestierenden ist sehr heterogen und teils widersprüchlich: Besorgte Bürger*innen mit Regenbogenfahnen und Anhänger*innen der Friedensbewegung stehenneben Reichsbürger*innen und Impfgegner*innen.

WAS WILL QUERDENKEN UND WAS IST PROBLEMATISCH DARAN?

Die Initiative fasst ihre Forderungen auf einer DIN-A4-Seite zusammen: Wo noch zu Beginn der Pandemie gegen die geltenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen protestiert wurde, bleibt heute nur noch das Thema „Maskenpflicht“ bestehen, das Dreh- und Angelpunkt der vielen Reden ist. Die Maske schränke die Freiheit ein, die Grundrechteseien beschnitten und zusätzlich mache das Tragen einer Maske krank. In ihrer Argumentation greifen sie dabei immer wieder auf geschichtsrevisionitische Vergleiche zurück: Die staatlichen Einschränkungen und die eingeführte Maskenpflicht gleichen einer Diktatur. Die Tatsache, dass trotz einer gefährlichen Pandemie hunderte Menschen ohne Einhaltung der Corona-Maßnahmen bundesweit demonstrieren dürfen, sollte den
Teilnehmenden die Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Argumentation deutlichen machenaber nein.

Doch der Protest richtet sich bereits von Anfang an gegen mehr als nur Corona-Maßnahmen: Die Existenz der Covid-19-Pandemie wird geleugnet oder die Folgen einer Erkrankung verharmlost, stattdessen wird die Pandemie, aber auch Kritik an Verschwörungsmythen als Werkzeug der „Eliten“ bezeichnet.
Etablierten Medien wird großes Misstrauen entgegengebracht, als valide Quellen gelten stattdessen Messengerkanäle wie Telegram und Nachrichtenseiten aus dem verschwörungsideologischen Spektrum. Diese sorgen für die weitere Verbreitung von aktuellen Verschwörungsmythen im Netz. Und eben genau aus diesem Dunstkreis treten immer wieder Redner*innen auf „Querdenken“-Versammlungen auf.

ALUHÜTE, DAVIDSTERNE UND REICHSBÜRGER*INNEN IN DARMSTADT

Viele Redner*innen auf den Querdenken-Demonstrationen beziehen sich in ihrer Argumentation auf unwissenschaftliche Quellen und reproduzieren Verschwörungsideologien. In ihren Reden verwenden sie rechte Rhetoriken sowie Bilder und stützen sich immer wieder auf rassistische, antisemitische und queerfeindliche Ressentiments. Darüber hinaus schrecken weder Organisator*innen noch Teilnehmende vor persönlichen Drohungen und Anfeindungen gegenüber Andersdenkenden und Pressemitarbeitenden zurück.
Bereits seit den ersten kleineren Kundgebungen mit ca 20-30 Personen in Darmstadt, war diese Tendenz zu Verschwörungsideologien erkennbar. Es zeichnete sich deutlich ab, dass es eben nicht nur eine kritische Kundgebung zu den Coronamaßnahmen war, sondern von Anfang an eben auch ein Sammelbecken für rechte und antisemitische Ideologien und ihre Vertreter*innen.

So gab es am 9. Mai gab eine Live-Schaltung mit dem Antisemiten und Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen, der ohne jeglichen Widerspruch empfangen wurde.Die bundesweit mobilisierte Großkundgebung auf dem Messplatz am 27. Juni mit ca. 600 Teilnehmende bejubelte auf dem großen Bühnenwagen mit LED-Leinwänden vom Pfungstädter Unternehmen Koke u. a. Nana Domena aka Lifestyler, der auf seinem Blognamens “ Multikulti trifft Nationalismus” gemeinsam mit dem Neonazi Frank Kraemer Faschist*innen eine Plattform bietet.

Neben Pride-Fahnen und diversen Nationalflaggen wurden Teilnehmende mit Aluhüten und angepinnten Davidsternen mit der Aufschrift „ungeimpft“ gesichtet. Außerdem traten offen Reichsbürger*innen auf den Veranstaltungen von „Querdenken615“ auf, die zuvor mit Trachten und Reichsflaggen an der B3 unter dem Motto „Flagge zeigen“ihren Protest zum Ausdruck brachten.
Die Querdenken-Veranstaltungen sind nicht bloß Ausdruck einer Position, sondern ein bewusster Angriff auf Minderheiten. Durch die Nichteinhaltung von Hygienemaßnahmen bzw. eine absichtliche Missachtung derselben, sind diese Veranstaltungen dazu noch äußerst gefährlich und absolut unverantwortlich und Tragen zu einer Steigerung des Infektionsrisikos bei.

WER MIT FASCHIST*INNEN FÜR GRUNDRECHTE DEMONSTRIERT, IST UNGLAUBWÜRDIG

Auch wenn sich einige der Redner*innen von rechten Tendenzen innerhalb ihrer Initiative distanziert haben, treten sie kontinuierlich mit Neonazi-Parteien wie „Der Dritte Weg“ oder der „NPD“, mit Akteur*innen der extrem rechten Gruppe „Identitäre Bewegung“ und weiteren vom Verfassungsschutz beobachteten und äußerst gefährlichen Personen oder Gruppierungen auf.
So mobilisierte auch die Darmstädter Querdenken-Initative im August zur Großdemonstration nach Berlin, bewusst oder unbewusst neben Neonazis, Rechtsextremen und Antisemit*innen – von der NPD über Reichsbürger*innen bis zur AfD.

Es geht uns hier und heute keinesfalls darum, alle Teilnehmer*innen der Veranstaltungen in die rechte Ecke zu stellen. Doch wer kein Problem damit hat, mit den größten Feinden der Demokratie gemeinsam für Grundrechte und das Grundgesetz zu demonstrieren, der macht sich und sein Anliegen völlig unglaubwürdig und dient als Steigbügelhalter der Faschist*innen.
Und eine wahrnehmbare Abgrenzung zu antisemitischen Verschwörungsideolog*innen findet generell nur sehr selten bis gar nicht statt. In der Folge konnten diese die Versammlungen häufig ohne Widerspruch als Bühne für ihre Inhalte nutzen. Das ist absolut inakzeptabel!

Und klar, das Virus verunsichert, die Einschränkungen sind für einzelne Bevölkerungsgruppen hart – auf Ebene des menschlichen Miteinanders, aber für viele Menschen auch finanziell. Wer sehnt sich nicht nach seinem alten Vor-Corona-Leben zurück? Doch das Virus ist Realität und es bleibt eine gesundheitliche Gefahr für alle. Bei aller Unzufriedenheit lässt sich daher von allen Menschen dieses kleine Stück (Selbst-)Reflexion und eine klare Distanzierung erwarten – und zwar nicht nur in kargen Worthülsen! Die nachträgliche Distanzierung von „Querdenken“ kommt zu spät.

Die Corona Pandemie ist leider noch lange nicht vorbei und die erneut steigenden Infektionszahlen in Deutschland machen deutlich, dass die Bekämpfung des Virusweiter unsere volle Aufmerksamkeit verlangt. Wir lassen niemanden alleine und kämpfen gegen Querdenker*innen und gegen alle, die rechte Ideologien vertreten. Wir stehen ein für mehr Solidarität.

 

In diesem Beitrag können wir nicht auf alle Themen eingehen. Hier findet ihr mehrInformationen:
CORRECTIV – Recherchen für die Gesellschaft
Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP)
ARD-faktenfinder
Recherche- & Informationsstelle Antisemitismus RIAS
• u. v. m.