Beitrag von Günter Mergel (DIFFF

Bezogen auf die Demonstrationen und Kundgebungen des “Querdenker”-Spektrums war in einigen Medien zu lesen oder zu hören:
“Da wächst zusammen, was zusammen gehört.” Das ist zwar richtig, aber nur eine Hälfte der Wahrheit, weil die beteiligten Gruppen oder Strömungen schon sehr lange zusammenarbeiten. Das einigende Band, das alle diese Gruppierungen von persönlichen Bekanntschaften verbindet, ist ihre anti-wissenschaftliche Sichtweise der Welt und das Märchen von der großen Verschwörung; eigentlich sind es verschiedene, sich meistens widersprechende Verschwörungsmythen.

Wenn die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhänge einer komplexen, hochtechnisierten Wirklichkeit nicht mehr von einigen Menschen verstanden werden wollen, greifen sie auf einfache und monokausale Aussagen zurück; erst recht, wenn sich diese Wirklichkeit im Umbruch befindet. So werden hinter allen Ereignissen die Machenschaften kleiner, aber sehr mächtiger Verschwörergruppen gesehen. Wahlweise sind das dann die Freimaurer, die Jesuiten, die Illuminaten, die Pharma-Industrie, die Briten, das Echo, die 98er Fans, der Vatikan sowieso oder alle zusammen. Unverzichtbar dabei sind diejenigen, die ich absichtlich nicht in der Aufzählung genannt habe: Es gibt keine VT ohne
Juden als Drahtzieher hinter allen Vorkommnissen, selbst wenn sie gar nicht genannt werden.
Der erfolgreichste und wirkmächtigste VM sind die “Protokolle der Weisen von Zion”, in denen die These von der großen jüdischen Weltverschwörung entwickelt wurde. Diese These hatte im NS den Rang einer bewiesenen Tatsache und ist mitverantwortlich an den
millionenfachen Morden. Sie war fester Bestandteil des NSDAP-Programms und der offiziellen deutschen Politik. Adolf Hitler zitierte zustimmend daraus in “Mein Kampf” ebenso wie der eigentliche Chefideologe der Partei Alfred Rosenberg in seinem “Der
Mythos des 20. JH”.
In den P werden angeblich von 12 Ältesten der Stämme Israels geheime Strategien und Pläne besprochen, wie die Juden das ganze Geld der Welt und schließlich die Welt selbst in ihren Besitz bringen wollen. Der Adel und das Industriekapital solle dazu verführt werden, hohe Schulden zu machen, um darüber alle Aktienbörsen und den gesamten Welthandel zu kontrollieren. Auch die Kontrolle über Presse und Kirchen würde angestrebt werden. Ein wichtiger Teilerfolg sei gewesen, den Heiland der Christen zu kreuzigen. Jüdische Männer sollten mit arischen Frauen massenhaft uneheliche Kinder zeugen. Diese als “Bastarde” titulierten sollten dann künstlich Warenverknappungen und andere Krisen erzeugen, was dann zu Kriegen und Revolutionen führen werde, aus denen die Juden dann als Könige der Welt hervorgehen.
In manchen Ausgaben Alfred Rosenberg wird behauptet, daß die Juden vor 3000 Jahren einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, um ihre Ziele zu erreichen.
Die demokratischen Forderungen des Liberalismus der französischen Revolution werdendenunziert und unentwirrbar mit monarchistischen Politikkonzepten vermengt: Die Juden
erscheinen in den heutigen Ausgaben der Protokolle als Herrscher und als Revolutionäre zugleich.
Der Historiker Norman Cohn bezeichnete die P als “Bevollmächtigung zum Völkermord”.Die Ermordung des damaligen deutschen Außenministers Walter Rathenau wurde 1922
damit gerechtfertigt, daß er als einer der Weisen von Zion enttarnt worden sei. Ab 1929 gehörten die alleinigen Rechte an dem Buch der Partei NSDAP, die über 40 Auflagen herausbrachte.

Der antisemitische Esoteriker und Herausgeber Theodor Fritsch schrieb in einem Vorwortder P : “Eines aber ergibt sich als unabweisbare Forderung aus diesen Protokollen: Das Judentum darf nicht länger unter uns geduldet werden! Es ist eine Ehrenpflicht der gesitteten Nationen, dieses räudige Geschlecht auszuscheiden, da es schon durch seine Anwesenheit alles verpestet, die Völker geistig und seelisch krank macht…. Die “Protokolle”enthalten ja die umfänglichsten Geständnisse, wie alle Zeitnöte durch die dämonischen Machenschaften der Volks-und Staatsverwüster künstlich genährt und gezüchtet wurden”(Fritsch 1931, Hervorhebung im Original).

Alle gängigen VM bedienen sich an den P, in dem sie je nach Belieben Versatzstücke daraus benutzen oder diese passend umformen.
Das Q-Anon-Gerücht z. B. glaubt, daß reiche und prominente Menschen das Blut von Kindern trinken, die unterirdisch gefangengehalten und gefoltert werden. Schon im Mittelalter wurde den Juden neben vielen anderen Gräueltaten unterstellt, daß sie das Blut von Christenkindern trinken.
Die Verschwörungs-Autoren schreiben normalerweise voneinander ab, unabhängig vom Wahrheitsgehalt und ganz ohne Faktencheck. So ist der tatsächliche Ursprung einer Behauptung oder einer Formulierung nicht mehr nachzuvollziehen. Bei den P ist das aber
dank vieler kritische Autoren anders. Die Entstehungsgeschichte der P sieht etwas grob umrissen ungefähr so aus wie das Folgende:

Zum Anfang dieser Geschichte, bzw. zum Anfang der P: Der eigentliche Schöpfer der P war der Pariser Rechtsanwalt Maurice Joly, der 1864 in Belgien ein Buch mit dem Titel “Dialog in der Hölle” herausbrachte, nachdem er in Frankreich keinen Drucker dafür gefunden hatte. Das Buch war unterteilt in 25 satirische Dialoge, in denen sich Montesquieu und Machiavelli einen heftigen fiktiven Streit in der literarischen Tradition der Totengespräche liefern. Zur Erinnerung:
Montesquieu gilt als Vordenker der Aufklärung, als Quasi-Erfinder der Gewaltenteilung. Machiavelli gilt als rücksichtsloser antimoralischer Machtpolitiker ohne Skrupel. Das Buch klagte Kaiser Napoleon III. an, die 1789 erkämpften Bürgerrechte zugunsten einer Despotie wieder abschaffen zu wollen. Während Montesquieu die bürgerlichen Freiheiten und die humanistischen Werte konsequent verteidigte, ließ Joly im Buch für jeden offensichtlich durch den Mund Machiavellis die despotischen und zynischen Halbwahrheiten Napoleons III. verkünden. Wörtlich spricht Machiavelli zu Montesquieu: “Ihr Fehler ist, daß sie das Volk achten. Sie haben keine Ahnung, wie dumm es ist.”
Maurice Joly war damals ein weit über Paris hinaus bekannter Anwalt und wollte mit seinem Buch das französische Volk aufrütteln und vor Napoleon III. und seiner heraufziehenden Diktatur warnen. Er wollte aufzeigen, wie leicht ein Demagoge -heute würde es Populist heißen- die Schwächen der Demokratie zu deren Abschaffung mißbrauchen kann. Natürlich wurde das Buch verboten, Joly mußte eine hohe Geldstrafe zahlen und einige Jahre im Kerker verbringen. Seine Anwaltskarriere war vorbei.

Der deutsche antisemitische Autor Herrmann Goedsche muß dieses Buch gekannt haben. 1868 veröffentlichte er unter seinem Pseudonym Sir John Retcliffe den Roman “Biarritz”, in dem über 160 Stellen direkt aus dem “Dialog in der Hölle” von Joly abgeschrieben sind. Goedsche hatte Zugang zum preußischen Hof und gilt in der Literaturwissenschaft als Anhänger von Bismarck und der Monarchie. Er wählte den Titel seines Romans -Biarritz- nicht zufällig aus. Diese Stadt wurde häufig von Bismarck und eben auch von Napoleon III. besucht. Beide standen für Goedsche im Rang von Helden, die die altehrwürdige Ordnung der Monarchie gegen die Angriffe des Liberalismus und seiner Gleichmacherei verteidigten.
Waren es bei Joly noch zwei sich antagonistisch streitende Kontrahenten, die in einer Satire die Diktatur entlarvten, wurden bei Goedsche 12 jüdische Stammväter daraus, die sich in wesentlichen Fragen einig sind. Er vermischt die fiktiven Aussagen von Montesquieu und Machiavelli, wobei der menschenverachtende Standpunkt von Machiavelli einen größeren Stellenwert als im Original von Joly bekommt. Diese eigentümliche Mischung von politisch nicht zu vereinbarenden Ansichten stellt für sich gesehen einen Interessanten Mechanismus dar. Diese Mischung erlaubte es den Nationalsozialisten, die Juden für den Kapitalismus ebenso verantwortlich zu machen wie für die Oktoberrevolution 1917 in Rußland.
Unter dem Titel “Der bald herannahende Antichrist” wurde 1905 vom Sergej Nilus eine russische Übersetzung der P herausgegeben. Spätere Ausgaben wurden fleißig verändert und
mit verschiedensten Zusätzen ergänzt, die sich an der jeweils aktuellen Tagespoliti orientierten.
So behauptete Nilus, daß sich die P auf einen Vortrag von Theodor Herzl beziehen würden, den dieser auf dem ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel gehalten hätte. Die russische Intelligenz war damals liberal eingestellt und forderte demokratische Reformen vom
Zarenhaus. Zuerst wurden die P vom zaristischen Geheimdienst benutzt, um die Unzufriedenheit gegen die angebliche weltweite jüdische Verschwörung zu richten. Nachdem die wahre Herkunft der P aufgedeckt werden konnte, mußten sie in Rußland offiziell verboten werden. Kurz vor und während der Revolution 1917 wurden sie wiederbelebt: obwohl Lenin und Kerenski eigentlich Konkurrenten waren, wurden sie in den P wahlweise als jüdische Agenten oder als 2 der 12 Weisen von Zion eingebaut. Diese
Version wurde vom zaristischen Geheimdienst weltweit verbreitet und wurde sogar in der englischen TIMES und der MORNING POST abgedruckt. 1920 erschienen die P in einer US-Tageszeitung, die dem Großindustriellen Henry Ford gehörte. Ford selbst schrieb ein
Buch mit dem Titel “Der international Jude – Ein Weltproblem”, in dem er die Nilus- Version der P mit den Juden als geheime Drahtzieher hinter der Oktoberrevolution übernahm.
Der rechtsradikale und antisemitische CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann zitierte 1993 zustimmend aus Fords Buch in einer Rede zur sog. Wiedervereinigung. Er meinte, wenn die Deutschen ein “Tätervolk” seien, sind die Juden dann nicht auch ein Tätervolk? Wegen ihrer Drahtzieherschaft 1917 in Rußland?? Heute ist Hohmann ein leidererfolgreicher AFD-Politiker. Nilus mischte die Jesuiten, die Freimaurer, die Illuminaten und andere Orden, Logen und religiösen Kulte in die P mit hinein, die natürlich alle vom Weltjudentum gesteuert würden.
Diese Version der P ist die heute verbreitetste. Sie wird in den USA vom KKK herausgegeben, aber auch von den Black Muslims verbreitet. In fast allen arabischen Ländern werden die P bis heute in Schulen gelehrt und sogar an Universitäten als bewiesene Tatsachen.
In jedem Land wurden oder werden die P in den jeweiligen Vorworten anders interpretiert und an die nationalen Erfordernisse angepaßt: In den USA galten die P als Dokument für
eine britische Verschwörung, in Frankreich als US-britische und in Japan wurde die jüdisch- freimaurerische Verschwörung für die Bedrohung aus China verantwortlich gemacht. Der
deutsche Autor mit dem Pseudonym Jan van Helsing (= Jan Udo Holey) erreichte Anfang/Mitte der 1990er Jahre mit seinen 2 Bänden unter dem Titel “Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert” mit einer Gesamtauflage von über 150 000 hauptsächlich in Esoterikläden und Nazibuchläden verkauften Exemplaren traurige Berühmtheit. Der Verfassungsschutz bezeichnete ihn als den erfolgreichsten Nationalsozialisten seit 1945. Daß Helmut Kohl in Wahrheit ein Jude sei mit Namen Henoch Kohn und ähnlicher Blödsinn ist dort zu lesen. Natürlich wird der Holocaust ebenso wie die deutsche Schuld am 2. WK geleugnet.. Die Juden hätten Deutschland zuerst angegriffen. Die Juden wären ein Bündnis mit außerirdischen Aliens eingegangen, um in deren Auftrag die Weltherrschaft zu übernehmen. Das viel zu spät erfolgte Verbot der 2 Helsing-Bücher steigerte seine Popularität in der Esoterik-Szene ins Unermeßliche. Die verbotenen Bücher strahlten eine besondere Faszination aus wurden nun sogar in der linken Szene zehntausendfach per Hand kopiert und auch als illegaler Raubdruck neu aufgelegt. Der ursprüngliche Verlag traute sich
was und bewarb die Bücher auf der Frankfurter Buchmesse.
Dies führte zum ersten und bis heute einzigen Polizei-Einsatz gegen einen Verlag währendder Buchmesse, der von beherzten Antifaschisten initiiert wurde.Nach der Aufhebung des Verbots kamen runderneuerte Neuauflagen auf den Markt, bei
denen viele Stellen entschärft wurden oder ganz fehlten.
All das hinderte die in DA gegründete Kiffer-Zeitschrift “GROW!” nicht, ein Interview mitJan van Helsing abzudrucken. Er durfte auf vier Seiten seinen Neonazidreck auskübeln: Hitler hätte angreifen MÜSSEN, nachdem die Juden Deutschland den Krieg erklärt hätten,
usw. Teile der Leserschaft reagierten ziemlich empört, aber die Redaktion stellte sich hinter den Autor und seine Nazi-Propaganda. Ich frage mich, wie bekifft mensch sein muss…

Alle VM beinhalten immer auch eine Aufforderung zur Tat, zur direkten Aktion. Der Vegan- Koch Attila Hildmann posiert in Netzvideos mit Waffen, Reichsbürger ermorden Polizisten
und die Attentäter von Halle und Kassel begründen mit VM ihre Taten.
Ich komme zum Schluß:
Die tatsächliche Gefährlichkeit von VT zeigt ein Vorkommnis aus dem Jahre 1998 in DA. Es geht um die grausame Tötung eines damals 33-jährigen Darmstädters, der auf dem
Luisenplatz einfach nur wie immer seine Mittagspause mit einer Tasse Kaffee verbringen wollte.
Er wurde auf dem Luisenplatz mit mehreren Messer-Stichen getötet. Der Täter war Anhänger von VT und glaubte, in dem Opfer einen Illuminaten zu erkennen. Im Prozeß rechtfertigte er seine Tat mit dem Hinweis auf die van Helsing-Bücher, an deren Wahrheitsgehalt er fest glaubte und daß er mit seiner Tat den 3. Weltkrieg verhindert hätte. Zu seiner Rechtfertigungslektüre gehörte auch das Panokratie-Buch eines Darmstädter Autoren, der einige Jahre als Chefredakteur der Kiffer-Zeitschrift “GROW” (s. o.)
fungierte und als einer deren Gründer gilt.
Ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit.

Unvollständige Literaturliste
“Die Protokolle der Weisen von Zion – Die Grundlage des modernen Antisemitismus” hgg.
von Jeffrey Simmons, 130 Seiten, Wallstein 1998
“Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet” von Binjamin Segel, 520 Seiten,
ca ira 2017 (Erstausgabe 1924)
“Das Foucaultsche Pendel” von Umberto Eco, verschiedene Ausgaben (z.Z. bei Ebay für 1
E), gibts auch als Hörbuch (17 Std.)
“Weltverschwörungstheorien -die neue Gefahr von Rechts” von Gugenberger/Schweidlenka,
320 Seiten, Deuticke 1998 (die Autoren stammen aus der Eso-Szene, aber trotzdem
informativ)
“Sekten. Im Bann von Sucht und Macht” von Hugo Stamm, 1994
“Heimliches Wissen-Unheimliche Macht” von El Awadalla, Wien 1997
“Die These von der Verschwörung 1776 bis 1945” von Johannes R. von Bieberstein, 1976
“Entspannt in die Barbarei” von Jutta Ditfurth, 365 Seiten, Konkret Verlag 1996
“Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus” von Nicholas Goodrick-Clarke, 290
Seiten, Leopold Stocker Verlag(=rechtsradikal) 1997; Goodrick-Clarke veröffentlicht heute
im Nazi-Verlag Marix aus Wiesbaden
“Die Götter des New Age” von Peter Kratz, Elefanten Press 1993.
Günter Mergel vom Darmstädter Institut für Faschismusforschung (DIFFF)