Antisemitismus und Rechte Gewalt Redebeitrag von Renate Dreesen

“Wir möchten jetzt keine Solidarität, wir wollen Taten!” sagt Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzki, und weiter: “Solidarität ist wie eine Kopfschmerztablette bei einer schweren Krankheit. Sie lindert den Schmerz, aber bekämpft nicht die Ursachen.” Er sagte das, nach dem am letzten Sonntag ein Ex-Bundeswehrsoldat in Uniform und mit Hakenkreuz in der Tasche einen jungen jüdischen Studenten vor der Synagoge mit einem Spaten schwer verletzt hat. Vorher hat der Täter noch Polizisten gefragt, ob das die Synagoge sei. Wieder wird von einem Einzeltäter gesprochen, den man in die Psychiatrie steckt.

Vor einem Jahr hat zum Glück die massive Eingangstür die Menschen in der Synagoge geschützt. Zwei Passanten wurden ermordet, an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag.

In Darmstadt wurde vor einigen Wochen die Menora vor dem Erinnerungsort Liberale Synagoge schwer beschädigt. Überall und zunehmend Verbrechen gegen Juden, Muslime, Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, wie in Hanau und immer sind es Einzeltäter, verwirrte Einzeltäter.

Vor zwei Wochen erschien im Darmstädter Echo ein Leserbrief, wo der Zahnarzt Michael Oheim aus Riedstadt von den Juden in Deutschland Dankbarkeit verlangt, weil es ihnen nirgends so gut gehe wie in Deutschland. Man kann es kaum glauben – auch ein verwirrter Einzelner? Oheim – er hat den Leserbrief mit vollem Namen unterschrieben – beruft sich dann auf den von Nazis ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke: “Wem es hier nicht passt, kann unser Land verlassen.” Man ist erst mal sprachlos, über solch eine infame Behauptung, aber auch darüber, dass so ein Dreck im Darmstädter Echo veröffentlicht wurde. Am nächsten Tag gab es eine Entschuldigung des Chefredakteurs, die wenig überzeugend war, dann aber eine ganze Seite mit empörten Leserbriefen.

Es ist nichts Neues, Antisemitismus hat es immer gegeben, religiösen Antisemitismus, das wissen wir spätestens seit Luther bis hin zum völkischen rassistischen Antisemitismus unter Hitler. Das hat sich in der Nachkriegsgeschichte nicht geändert, 20 – 30% der Menschen waren rassistisch und antisemitisch. Aber so richtig offen wurde das nicht gezeigt.

Im letzten Jahr hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein bei der Gedenkveranstaltung am Güterbahnhof gesprochen. Unter anderem bezog er sich auf die Studie aus 2002, wo durch die nachfolgenden Generationen die Verbrechen der Großvätergeneration von den Enkeln kleingeredet wurden. “Opa war kein Nazi”, eine Untersuchung, die unter anderen Harald Welzer gemacht hat.

Heute sind wir in allen gesellschaftlichen Bereichen mit einem zunehmenden Antisemitismus konfrontiert. Seit Jahren hört man “Jude” als Schimpfwort auf den Schulhöfen. Immer schon gab es Antisemitismus, in der Nachkriegszeit hat das nie aufgehört. Aber das, was früher an den Stammtischen, in der Familie zu hören war, ist heute in der Öffentlichkeit, ja sogar in den Parlamenten, vom Internet will ich gar nicht reden. Das ist unerträglich. Menschen verbreiten ihre antisemitische Hetze sogar unter ihren Namen, da

ist keine Scham mehr vorhanden und das fängt früh an.

Als Vorsitzende des Arbeitskreises ehemalige Synagoge in Pfungstadt biete ich gerne Führungen an. Bei der Führung einer 4. Klasse der Grundschule fragte mich die Lehrerin, ob es Pfungstadt eine jüdische Gemeinde gäbe. Ich erklärte, dass es einige Familien gäbe, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, die nächste jüdische Gemeinde sei in Darmstadt. Da kommt ein kleines Mädchen und sagt, der Dimitri hat gesagt, er sei auch ein Russe, aber kein “Scheiß Jude”, in der 4. Klasse. Da kann man schon nachdenklich werden.

Auch von muslimischer Seite gibt einen Antisemitismus, auch viele Geflüchtete sind in der arabischen Welt mit dem Hass auf Israel sozialisiert worden. Ich bin sehr oft in Israel, es ist ein wunderbares Land, aber die politische Situation nimmt Entwicklungen an, die auch viele Menschen in Israel mit Sorge erfüllt. Die Situation für die Araber in Israel wird schwieriger. Von einer 2 Staatenlösung wird kaum noch gesprochen. Das kann man kritisieren, aber der Staat steht nicht zur Disposition. Deshalb ganz klar: Auch israelfeindlicher Antisemitismus muss überall entschieden bekämpft werden.

In Zeiten von Corona hat sich unser Leben völlig verändert. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben ist fast völlig zum Erliegen gekommen. Die Menschen sind unterschiedlich hart betroffen, oft sind Existenzen gefährdet. Wie durch ein Brennglas werden die Probleme, die es auch schon vor der Pandemie gab, deutlich sichtbar und verschärft, wie soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Benachteiligung und Armut.

Viele Menschen gehen seit Monaten auf die Straße, mit vielen auch berechtigten Forderungen. Verschwörungstheoretiker aller Couleur und vor allem Rechte, Reichsbürger, Faschisten führen das Wort. Wir sehen antisemitische Transparente, hören solche Parolen, angebliche jüdische Kräfte bedrohen die Welt, so die “Verschwörungsexperten”. QAnon war im Spiegel Titelthema, kaum vorstellbar, welche Verbreitung das hat. Menschen tragen den gelben Stern, mit der Aufschrift “ungeimpft”, man beruft sich auf Anne Frank etc. Kaum auszuhalten. Große Aufregung, als die Reichskriegsflaggen vor dem Bundestag auftauchen, die Rechten jubeln, sprechen vom Tag X. Wir dürfen da nicht tatenlos zusehen. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass die Teilnehmer so naiv sind oder tun, als wüssten sie nicht, mit wem sie demonstrieren. Da sind auch wir gefordert, Position zu beziehen, Haltung zu zeigen, in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, wo auch immer!

Auch in Darmstadt finden diese Demonstrationen statt. Menschen, die Masken ablehnen, gefährden nicht nur sich, sie gefährden vor allem andere. Auch mir ist es unangenehm und ungewohnt, Maske zu tragen, ich erkenne die Menschen oft nicht. Aber um uns und andere zu schützen, muss das sein.

Wenige Monate nach diesem Mord an Walter Lübcke durch Nazis hat die hess. Landesregierung, die hess. Landeszentrale für politische Bildung und den Verfassungsschutz eine Ausstellung gegen die Gefahr des Linksextremismus unter dem Titel “Aufgeklärt statt autonom” an alle Schule verteilt.

Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Definitionen zu Extremismus und Zahlen

stammen vom Verfassungsschutz, der sich gerade in Hessen nicht mit Ruhm bekleckert hat und systematisch die Ausklärung der NSU Morde verhindert hat, Verfassungsschützer Temme, der zur Zeit des Mordes an Halit Yozgat im Internetcafe war, wird bis heute geschützt.

Man kann kaum fassen, dass diese unsägliche Ausstellung nicht auf Widerstand in den Schulen gestoßen ist. Nur von der Edith-Stein-Schule wissen wir von Protesten der Schüler. Die GEW hat zwar eine Studie dazu erstellen lassen, die zeigt, wie einseitig die Ausstellung ist, aber Proteste hielten sich in Grenzen.

Die schrecklichen Ereignisse in Hanau am 19. Februar, die Morde an neun Menschen mit Migrationshintergrund, haben jedem deutlich gemacht, dass rechter Terror eine der größten Bedrohungen für unsere pluralistische Gesellschaft ist und den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft gefährdet. Wir müssen deshalb unsere Anstrengungen, jeder Art von Rassismus und Menschenfeindlichkeit entgegenzutreten, verstärken.

Offizielle Zahlen von rechter Gewalt und rechten Morden werden mit weniger als 50 beziffert, die aktiven Rechercheure nennen Zahlen von mehr als 200. Geschieht ein Verbrechen, wird meist der politische Zusammenhang negiert. Das gilt auch für Gewalt gegen Migranten. Selbst Hassbotschaften im Internet werden oft heruntergespielt. Wie kann es sein, dass fast 500 Haftbefehle gegen rechte Gewalttäter nicht vollstreckt werden? Wie kann es sein, dass die Behörden nicht zusammenarbeiten, Akten geschreddert werden?

Wenn sich heute Politiker fast aller Parteien als Kämpfer gegen Rechts gerieren, so sind das in Anbetracht ihrer Handlungen nichts als leere Worte. Die Morde des NSU müssen aufgeklärt werden. Der Sperrvermerk muss vom Tisch, die NSU – Akten müssen zugänglich sein, die Rolle des Verfassungsschutzes muss geklärt werden, der über V-Leute mit unseren Steuergeldern die rechte Szene seit Jahrzehnten finanziert. Konsequent muss jede Vernetzung und Unterstützung aufgedeckt werden, auch in der Polizei, in der Bundeswehr, in der Verwaltung, der Justiz, kurz: in allen Bereichen.

Die NSU-Akten s in Hessen wurden zunächst für 120 Jahre gesperrt. 120 Jahre bedeuten, die Akten für 5 Generationen zu sperren. Wären die Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus 1945 für 120 Jahre gesperrt worden, so könnten wir sie erst 2065 einsehen, in 46 Jahren.

Wir fordern mit aller Deutlichkeit die Offenlegung der NSU-Akten in Hessen, denn anders kann eine Auseinandersetzung mit rechtem Terror in Deutschland nicht stattfinden.

Es ist unerträglich, dass die Opferanwältin Seda Basay-Yildiz seit über zwei Jahren Morddrohungen erhält und mittlerweile viele andere auch, die auf Daten von Polizeicomputern basieren und rechte Netzwerke in Polizei, KSK, Bundeswehr nicht konsequent aufgedeckt und angeklagt werden. Eine wissenschaftliche Untersuchung wird verhindert. Aufklärung und Supervision sind unabdingbar!

Solidaritätsbekundungen sind wichtig, das reicht nicht aus, da hat der Hamburger Rabbiner völlig recht mit seinem Vergleich mit der Schmerztablette. Es muss gehandelt werden. Politische Bildung muss endlich wieder stattfinden, professionell. Einichtungen wie das Haus am Maiberg und die vielen anderen Netzwerke gegen Rechts müssen dauerhaft gesichert werden, anstatt v.a. Geld für einzelne Projekte zu finanzieren, mit hohem bürokratischen Aufwand, wie bei “Demokratie leben”.

Wir beteiligen uns in Darmstadt und in Pfungstadt an Projekten, in denen über die Folgen und Auswirkungen der Pandemie nachgedacht wird, Ideen entwickelt werden, wie die Welt mit oder nach Corona besser werden könnte. Das soll mit künstlerischen Mitteln gestaltet werden. Die Projekte sind digital, wir alle lernen und müssen dazu lernen. Machen Sie mit.

Ideen zu entwickeln, wie eine sozial gerechte und ökologisch orientierte Welt aussehen soll, ohne Armut, Diskriminierung, Ausgrenzung, Antisemitismus und Antiziganismus ist die Aufgabe aller, die in einer freien und sozialen Gesellschaft leben wollen. Das geht uns alle an. Das betrifft uns alle.

Wir fordern, die Aktion “Respekt – kein Platz für Rassismus” zu unterstützen und diese Schilder an allen öffentlichen Gebäuden anzubringen.

Schilder können Sie bei mir bekommen.

Gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus! Das geht uns alle an!

Renate Dreesen vom Bündnis gegen Rechts Darmstadt &Bunt ohne Braun im Landkreis Darmstadt-Dieburg